von Marwan Abou-Taam im Original erschienen unter:
BPB Bundeszentrale für politische Aufklärung
Schon im neunten Jahrhundert formulierte Ahmad Ibn Hanbal die zentrale Forderung der Salafiyya: Der Koran sei wörtlich und uninterpretiert zu verstehen, im Zweifel so, wie ihn die Altvorderen (Salaf) verstanden haben. Marwan Abou Taam beleuchtet die extremistische Bewegung, die eine Gesellschaft göttlichen Willens etablieren will.
Salafiyya ist kein neues Phänomen des Islams. Bereits im neunten Jahrhundert trat Ahmad Ibn Hanbal mit der Forderung auf, die reine Textgläubigkeit zur religiösen Vorgabe zu machen. Dort, wo die Texte nicht offensichtlich genug sind, sollen sie nach dem Verständnis der Salaf/Altvorderen ausgelegt werden. Ibn Hanbals Einstellung war Ausdruck einer tiefen Abneigung gegen Philosophie, Logik und Verstand. So argumentierte er: „Ich bin keine Person der Diskussion/Philosophie und Kalam/Theologie. Ich bin nur eine Person der Überlieferungen und Berichte.“[1] Damit wollte er sich in aller Deutlichkeit von der Mu’tazila distanzieren. Dabei handelt es sich um diejenigen Muslime, die Verstand und Vernunft als Grundlage für den Umgang mit der göttlichen Offenbarung nutzten und den Islam lange Zeit prägten. Die Salafiyya wirft der Mu’tazila vor, sie würde dem Verstand Vorrang gegenüber der Tradition geben.
Die Ideenwelt Ibn Hanbals war Reaktion auf die politische Krise der damaligen islamischen Welt. Das Kalifat war von internen Machtkämpfen durchsetzt, die islamischen Eroberungen stockten oder waren nicht mehr Teil des Machtkalküls der herrschenden Elite am Kalifenhof in Bagdad. Diesem Zustand erklärte Ibn Hanbal damit, dass sich die damaligen Muslime durch Philosophie, Auslegung und Interpretation der Korantexte zu sehr von Gott entfernt hätten. Erst eine Rückorientierung und die direkte Anknüpfung an die ersten Gläubigen könnten demnach die Muslime aus ihrer Krise führen. Hier wird ein utopisches goldenes Zeitalter in den Gründergenerationen des Islams konstruiert und als Quelle jeglicher islamischer Praxis definiert. Der Weg in dieses utopische Zeitalter führt nach Ibn Hanbal nur über den Koran in seiner uninterpretierten, wörtlichen Fassung und über die Aussagen der Sunna bzw. die Tradition der Altvorderen.
Diese Vernunftfeindlichkeit im Bezug auf die Auslegung des Korans und das starre und weitestgehend unkritische Festhalten an der Tradition prägen auch heute das salafistische Denken und die salafistische religiöse Praxis. Ibn Hanbal lehnte die „Kultur der Ambiguität“[2], der Mehrdeutigkeit, ab. Sie führte im Islam zu Ausdifferenzierungsprozessen und Variationen der Gottesvorstellungen bis hin zu Abweichungen in sozialer Organisation, Ritual und Textbezug. Diese Vielfalt prägte und prägt den Islam. Für die Salafisten ist diese Vielfalt eine Gefahr, die den Islam schwächt. Bei der Salafiyya handelt es sich um eine Ausrichtung des sunnitischen Islams hanbalitischer Ausprägung.
Die religiöse Grundlage der Salafiyya
Anhänger der Salafiyya sind Muslime, die für sich in Anspruch nehmen, den Weg ins Paradies zu kennen. Allen anderen Muslimen, die den Lehren der Salafiyya nicht folgen, erkennen sie das Muslimsein ab. Diese dualistische Weltanschauung prägt ihr Denken und Verhalten in allen Lebenslagen. Die Grundlage ihres Glaubens ist neben dem Koran die Wegweisung des Propheten Mohammed, wie sie in der Sunna/Prophetentradition überliefert ist. Die unveränderliche Befolgung der Tradition und ihre ständige Nachahmung ist ihre zentrale Forderung. Daher bezeichnen sie sich auch als ahl al-hadith/Anhänger der Prophetenaussagen oder ahl-al-salaf/Anhänger der Altvorderen. Sie betonen damit, dass sie stets die Handlungen, Aussagen, ja die gesamte Epoche des Propheten Mohammed in die Gegenwart projizieren und in der Praxis ausleben. Sie sind überzeugt, dass nur durch die Nachahmung des Verhaltens Mohammeds und seiner Gefährten in allen Lebensumständen die religiösen Gebote des Korans eingehalten werden können. Dabei gilt die Vermischung von göttlichen Anweisungen und menschlichen Gedanken als Sünde. Somit ist alles, was nicht in der Sunna des Propheten verankert ist, als eine verbotene Innovation/ bid´a zu betrachten. Die Salafiyya fordert die wörtliche Auslegung des Korans, jegliche allegorische Deutung ist für sie ein Missbrauch. Vertreter anderer Glaubensauffassungen innerhalb des Islams, die dies tun, gelten damit als Ungläubige, die mittels des Jihads bekämpft werden müssen.
Die Idealisierung der islamischen Urgemeinschaft in Medina und die Betonung der göttlichen Vorherbestimmung bieten der Salafiyya die Möglichkeit, die Konflikte nach dem Tode des Propheten auszublenden. Tatsächlich war die von der Salafiyya als Ideal definierte Zeit voller innerislamischer Machtkonflikte: Drei der ersten vier Kalifen wurden ermordet, es kam zu heftigen Kriegen und schließlich wurde die Familie des Propheten regelrecht ausgelöscht. Die Salafiyya blendet diese Ereignisse aus und idealisiert die Personen dieser Epoche. Mörder und Ermordete sind im gleichen Maße Vorbild, denn die Salafiyya weigert sich, über die beteiligten Kontrahenten zu richten und erklärt die Ereignisse, die zur Ermordung der Familie des Propheten führten, zum göttlichen Willen. Ihren Kritikern begegnet die Salafiyya mit dem Argument, dass es in dieser Zeit die größten militärischen Erfolge der islamischen Eroberung gab.
Die Vitalität dieser ersten Eroberergenerationen sei das Produkt ihres besonderen Islamverständnisses. Aus dieser Argumentation wird die politische Mission der Salafiyya deutlich. Sie urteilt nicht moralisch, sondern machtpolitisch. Mit der Überbetonung der Tradition und dem Verbot des innovativen Denkens in religiösen Fragen wächst die Notwendigkeit, möglichst viele Aussagen des Propheten zusammenzutragen. Diese Prophetentradition ist für alle Muslime von zentraler Bedeutung. Jedoch lehnt die Salafiyya auch hier die Vielfalt der Auslegung dieser Traditionen ab. Damit werden andere islamische Konfessionen, die die Worte des Propheten anders verstehen und ausleben, als unislamisch zurückgewiesen und wenn die Möglichkeit besteht, offen bekämpft. Innerhalb der Salafiyya kommt es zur „Vergesetzlichung“ der Lehren des Islam. Der Koran mutiert zu einer Bedienungsanleitung. Einer Bedienungsanleitung, die nicht die Bedürfnisse heutiger Gesellschaften regelt, sondern dem Verständnis einer beduinischen Tradition des siebten Jahrhunderts entspricht. Heutige Lebenswirklichkeiten werden über abenteuerliche Analogien unter der Vorgabe, dass Verstand und Vernunft nicht zur Anwendung kommen dürfen, mit damaligen Situationen gleichgesetzt. Entscheidungen und Ratschläge werden aus ihrem zeitlichen bzw. historischen Kontext gerissen und in die Gegenwart katapultiert. Die Idealisierung der frühislamischen Zeit produziert eine rückwärts orientierte Utopie, die durch die strikte Einhaltung des Gesetzes erreicht werden soll.
In der Praxis reduziert die Salafiyya die Lehren des Islams auf das äußere Erscheinungsbild der Gläubigen. Aussehen, Kleiderordnung und Verhaltensvorschriften werden vorgegeben und als zentrale Merkmale eines Muslims deklariert. Wer diese Vorschriften nicht im Detail umsetzt, wird der Apostasie (Abfall vom Glauben) bezichtigt. Auch hierin unterscheidet sich die Salafiyya selbst vom orthodoxen sunnitischen Islam diametral. Diese Diskrepanz kann man u.a. damit erklären, dass viele Vertreter der Salafiyya im Unterschied zur traditionellen religiösen Geistlichkeit (‚ulama‘) nicht über eine fundierte religiöse Ausbildung verfügen. Es sind vielmehr theologische Laien und Freizeitprediger.
Die Salafiyya hat sich zum Ziel gesetzt, den Ur-Islam und seine damaligen Kulturzustände wiederherzustellen. Sie lehnt es ab, die Aussagen der Scharia fortzuentwickeln und will den Islam von allen Zusätzen und Erweiterungen reinigen. Dabei sind sie theologisch betrachtet selbst eine Neuerung, eine Anmaßung, die weder im Koran noch in der Prophetentradition Erwähnung findet.
Salafiyya – die Politisierung des Sakralen
Die Salafiyya ist das islamische Projekt der Politisierung des Sakralen. In vielen islamischen Staaten ist sie eine aufsteigende politische Kraft, eine Gegenelite, die für sich beansprucht, eine Gesellschaft göttlichen Willens zu etablieren. Dabei handelt es sich bei der Salafiyya nicht um eine lokalisierbare Organisation. Vielmehr ist sie eine weltumspannende Geisteshaltung, eine Idee, die von losen netzwerkartigen Strukturen und flachen Hierarchien geprägt wird.
Der gemeinsame Nenner aller Salifiyya-Bewegungen ist in erster Linie der Bezug zu den Lehren des Islam und der Anspruch, das einzig wahre Verständnis vom Islam zu besitzen. Ihr Islamverständnis verbindet die Salafiyya, gleichzeitig grenzt es sie politisch und religiös von anderen Muslimen innerhalb und außerhalb islamisch geprägter Gesellschaften ab. Dabei sind Salafisten nicht die einzige politische Bewegung, die sich auf die Lehren des Islams beruft. In vielen Ländern existiert eine Vielzahl von Bewegungen, die sich alle auf den Islam begründen, aber zutiefst verfeindet sind und sich gegenseitig der Apostasie bezichtigen und entsprechend bekämpfen.[3] Kultursoziologisch ist die Salafiyya Ausdruck einer defensiv-kulturellen Reaktion auf die Herausforderungen der Moderne. Sie artikuliert sich ideologisch aggressiv, denn ihr Ziel ist es, die gesamte Welt nach dem eigenen universalistischen Design islamisch zu gestalten.
Daher ist die Salafiyya in ihrer aktuellen Gestalt ein Reaktionsmechanismus auf die Krisen islamischer Gesellschaften. Sie agiert auf der Grundlage einer totalitären Weltanschauung, die sowohl das öffentliche wie das private Leben der Menschen zu kontrollieren sucht.[4] Geleitet werden die Salafisten von einer Weltanschauung, nach der der Islam eine absolut gültige Wahrheit darstellt, die durch Gottes Wort im Koran offenbart und dokumentiert wurde. Eine Annahme, die alle monotheistischen Religionen bezüglich ihrer jeweiligen Glaubensinhalte gemeinsam haben, wenn da nicht ein entscheidender Unterschied wäre: Durch die Politisierung dieser Überzeugungen stellen die Salafisten ein Herrschaftskonzept auf, das den Islam als al-hall al-Islami/die islamische Lösung für alle sozialen, wirtschaftlichen und organisatorischen Bereiche der Umma/islamischen Gemeinde sieht.
Das Konzept regelt das Verhältnis der Menschen untereinander und macht Vorschriften für alle Dinge des Alltags. Es definiert die Beziehung der Gläubigen zu den Ungläubigen sowohl im Staat als auch nach außen und liefert die Rahmenbedingungen für die Gestaltung der Herrschaft. Hierin sind zwei zentrale Charakteristika salafistischer Bewegungen wiederzufinden, die in allen Organisationen vertreten werden: die universalistisch-totalitäre Eigenschaft bestimmt erstens alle Bereiche der Gesellschaft und bedeutet auch die Aufhebung der Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Und zweitens die Ablehnung des Nationalstaats als Ordnungseinheit innerhalb des internationalen Systems zu Gunsten des Umma-Begriffes, der keine nationalstaatlichen Grenzen anerkennt und den Staatsbürgerbegriff negiert. Nach ihrer islamischen Überzeugung verbindet das Zugehörigkeitsgefühl zur khair Umma/besten Gemeinschaft (Koran 3/110) alle Muslime. Daraus leitet die Salafiyya ab, dass alles Handeln und Streben eines Muslims sich zu jeder Zeit am Wohl des Islams orientieren muss, denn alle Vorschriften für das individuelle Verhalten sind als Pflichten gegenüber Gott zu verstehen. Damit steht die islamische Offenbarung uneingeschränkt im Mittelpunkt des Interesses und das Individuum hat sich dem Gemeinwohl unterzuordnen. Die Salafiyya erhebt für ihr Islamverständnis einen Universalitätsanspruch.
Es ist eine Forderung, die der Vorstellung entspringt, dass der einzige Gott seine Lehre für die gesamte Menschheit als einen Weg zur Erlösung offenbart hat. Da alle Menschen Gottesgeschöpfe sind, gilt es, sie davon zu unterrichten und ihnen damit die Möglichkeit der Erlösung zu bieten. Die Salafisten politisieren diesen Anspruch und bestehen darauf, den von ihnen interpretierten Befehl Gottes, die Welt zu islamisieren, durchzusetzen. Die Autorität des religiösen und gleichermaßen politischen Führers gründet auf der uneingeschränkten Souveränität Gottes. Der Führer leitet die Umma/Gemeinschaft der Gläubigen und setzt den göttlichen Willen durch. Da´wa/Einladung zum Islam ist nach salafistischer Leseart die Hauptaufgabe des islamischen Staates. Eine Aufgabe, die notfalls auch mit dem Jihad kriegerisch erfüllt werden muss.
Ein weiterer Aspekt wird durch Tauhid/die Einheit Gottes impliziert. Tauhid ist ein theologischer Begriff, der Gott als den absolut Einen beschreibt.[5] Neben Gott soll keine weitere Autorität akzeptiert werden. Damit ist für die Salaffiyya-Anhänger jede Gesetzgebung, die nicht auf den göttlichen Willen fußt, nicht gültig. Sie ist sogar eine Idolatrie (Götzenverehrung), die zur Apostasie führt. Damit ist das politische Projekt der Salaffiyya zutiefst demokratiefeindlich. Salafisten in Ägypten rechtfertigen ihre Teilnahme an den Parlamentswahlen damit, dass sie hierdurch die Da´wa/ Einladung zum Islam effizienter über die staatlichen Strukturen umsetzen können.
Die Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschten ist durch Machtausübung und Unterordnung charakterisiert. Machtausübung und Unterordnung sind religiöse Pflichten, durch die der Mensch Gott näher kommt.[6] Anhänger der Salafiyya sehen im Koran eine politische Ordnung, gar eine Verfassung. Aus der Koranstelle „Gehorcht Gott und dem Propheten und denjenigen von euch, welche die Macht besitzen“(4/59) leiten sie für die Gläubigen eine Pflicht zur Unterwerfung gegenüber dem Führer. Somit hat der weltliche Herrscher göttlichen Glanz, ihm ist als dem Gotterwählten Gehorsam zu leisten. Ein starker Führer ist der Garant für die Durchsetzung der Schari´a. Die Schari´a ist das islamische Recht, also alle Gesetze, die in einer islamischen Gesellschaft zu beachten sind. Sie ist aber keine feste Gesetzessammlung. Die Schari´a ist für die Salafisten Quelle und Ziel des Politischen und hat einen totalen Geltungsanspruch. Hierdurch entsteht ein deutlicher Widerspruch zu den Grundlagen des modernen pluralistischen Verfassungsstaates, der sich nicht religiös legitimieren lassen kann.
Die Jugend in den Umbruchstaaten Ägypten, Tunesien und Libyen ist auf die Straße gegangen, um bessere Lebensbedingungen, Demokratie, Freiheit und Schutz der Menschenwürde zu erlangen. Die Salafiyya hingegen mit ihrer dualistischen und menschenfeindlichen Weltanschauung zelebriert gar ihr Unvermögen, eine konstrutkive Rolle zu spielen bei der Lösung sozialer, ökonomischer und politischer Konflikte der Gesellschaften, in denen sie agiert. Salafisten glauben, sie könnten durch die Organisation und Mobilisierung auf Grundlage einer vergangenen Utopie eine andere, bessere Gesellschaft formen. Ihre ideologisch begründete Realitätsverweigerung zeigt sich in der aggressiven Beschneidung der Freiheit Andersdenkender ebenso wie in ihrer Unfähigkeit zur Selbstkritik. Die Salafiyya schafft tiefe Gräben zwischen den Muslimen, spaltet Nationen entlang konfessioneller Linien und provoziert globale Konflikte. In einem solchen System erhalten Nicht-Muslime nur einen nachgeordneten Status mit der Begründung, dass die staatstragende Ideologie der Islam sei. Und das bedeutet, dass nur wer sich zum Islam bekennt, bei der Organisation des Staates involviert werden kann. Die Salafiyya ist Geisel einer selbstkonstruierten Tradition und nimmt ihrerseits den Islam in Geiselhaft.
Die Salafiyya und der globale Jihad
Die Salafisten interpretieren Geschichte dualistisch als ewigen Kampf zwischen Glaube und Unglaube. Die logische Konsequenz dieser damit einhergehenden Politisierung des Sakralen ist für sie der Jihad. Der militante Jihad ist ein Mittel zur Erreichung des utopischen Zustands vom islamisch-salafistischen Frieden. Dabei muss bedacht werden, dass in der Denkstruktur der Salafiyya die Universalität des Islam und der Unglaube Gegensätze sind, die nicht gleichzeitig existieren können.[7] Gott als Schöpfer aller Menschen soll von allen Menschen verehrt werden. Seine Gesetze müssen befolgt werden, damit ein Zustand seelischer Befriedung erreicht werden kann. Nur dadurch kann der Mensch in der Wahrnehmung der Salafiyya seinen natürlichen Platz innerhalb der Schöpfung wiedererlangen. Die Universalität des Islam und die damit verbundene Da`wa seien eine Rettungsaktion für die Menschheit, denn der Islam sei die Religion aller, die Recht, Gerechtigkeit und Freiheit wollen. Ein dichotomes Denkmuster entsteht: Die Anhänger Gottes sind die Kämpfer für das Gute und ordnen ihr Leben nach den von Gott geoffenbarten Regeln und Gesetzen. Die anderen, nämlich die Ungläubigen, erkennen menschliche Gesetze an, die von irdischen Souveränen gemacht werden. Diese Gesetze müssen notfalls mittels des Jihads verhindert werden, da alle Gläubigen vor ihnen geschützt werden müssen.
Die Salafiyya will die Gläubigen zusammenschweißen und klare Rollenmuster, Handlungsweisen und Ziele prägen. Ihre Anhänger sollen sich zusammengehörig fühlen und zwischen sich und den anderen unterscheiden, zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern, zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Unter den Anderen versteht die Salafiyya alle Ungläubige wie Christen oder Juden, aber auch liberale Muslime. Es kann sich auch um Regime, Systeme, Kollektive und Einzelpersonen handeln, die die Gedanken der Salafiyya nicht teilen.
Die Salafiyya will letztendlich die Umma herbeiführen, die Gemeinschaft aller Islamgläubigen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist Gewalt auch gegen Zivilisten ein legitimes Mittel. Die salafistische Weltanschauung erlaubt und fordert gar Gewalt gegen den tagut/ Tyrannen. Sie einigt dadurch alle, die sich als Opfer betrachten und reduziert deren mögliche Schuldgefühle, indem sie die eigene Aggression als Verteidigungshandlung, als Reaktion auf eine vom Gegner ausgehende Verschwörung, Aggression und Unterdrückung darstellt. Jeder Terroranschlag festigt somit die Identität der Kämpfer.
Betrachtet man die Führungselite der Jihad-Salafiyya, so handelt es sich keineswegs um ein reines Armutsphänomen. Jihadisten verstehen sich als Avantgarde des Islams. Die Argumentationslogik der Jihad-Salafiyya beschreibt den eigenen Kampf als Defensivkampf gegen Aggressoren, die islamisches Gebiet besetzen, die Schätze der Muslime plündern und die Bewohner demütigen. Des Weiteren wird die Besatzung und die damit verbundene Unterdrückung in Palästina instrumentalisiert. Damit emotionalisiert die Salafiyya ihre Anhängerschaft und polarisiert gegen die politischen Machthaber innerhalb der islamischen Welt, die unfähig waren, die Palästinenser zu schützen. Dieser Logik folgend haben die Feinde der Salafiyya eine Kriegserklärung an Gott, seinen Propheten und alle Muslime gerichtet. Und da nichts heiliger ist als das Vertreiben eines Feindes, der die Religion und das Leben bedroht, argumentiert die Salafiyya, dass „das Töten von Amerikanern und deren Verbündeten, ob Zivilisten oder Soldaten, die Pflicht eines jeden Muslims ist, der dazu fähig ist, egal, in welchem Land er die Möglichkeit dazu hat, um ihre Armeen aus allen Gebieten des Islam zu vertreiben, besiegt und unfähig, einen einzigen Muslim zu bedrohen“.[8]
Die Salafiyya und ihr Jihad verdeutlichen das Unvermögen einer ganzen Generation, am gesellschaftlichen Geschehen teilzunehmen. Der von der Salafiyya proklamierte Jihad entspringt einer Weltanschauung, die keineswegs mit dem Problem der Armut erklärt werden kann. Die Hauptakteure salafistischer Bewegungen vertreten einen machtpolitischen Anspruch. Ihre Strategien sind vielfältiger Natur. Die Bewegung teilt sich in Eliteformationen, die aus den „wahren“ Gläubigen bestehen, und Sympathisanten. Die Eliten sind die Träger und Verbreiter der Ideologie. Meist verstehen diese sich als Avantgarde, die die Muslime in das goldene Zeitalter des Islam zurückführen wird. Dabei geht es ihnen stets darum, sich als Erlöser zu präsentieren. Der gemeinsame Nenner vieler Sympathisanten der Salafiyya ist die Tatsache, dass es sich bei ihnen oft um gesellschaftliche Verlierer handelt.
Die Salafisten schaffen es, mit ihrer religiös-totalitären Weltanschauung desorientierte Jugendliche zu mobilisieren. Die Salafiyya prosperiert unter den Bedingungen einer fortschreitenden „Vermassung der Gesellschaft“[9]: Junge Menschen, die unter dem Verlust sozialer Zuordnung leiden und nach Identität und Geborgenheit suchen, fühlen sich in den totalitären Gedanken der Salafiyya beheimatet. Sie steht für Rückzug, Identitätssuche, das Beharren und die Angst vor vermeintlichen Sünden. Sie definiert Gut und Böse, indem sie einen vermeintlich „reinen“ Islam predigt. Ihr Erfolg resultiert daraus, dass die Salafiyya sich als sinngebende gesellschaftliche Formation darstellt, die Widerstand leistet gegen eine zunehmende Entzauberung des Göttlichen.[10] Das beinhaltet gleichermaßen eine revolutionäre Gedankenwelt gegen die Moderne und all diejenigen, die für die Schwäche des Islams verantwortlich gezeichnet werden und ist eine sich konservativ gebende Ideologie, die die goldene Zeit des Islams beschwört. Diese Gleichzeitigkeit von revolutionärem Chaos und religiös-kultureller Kontrolle übt eine Faszination aus, die viele junge Menschen erreicht. Das salafistische Projekt vermittelt ihnen das Gefühl, Zeitgeschichte zu schreiben, da sie sich aus Sicht der Salafiyya nicht nur gegen die vorherrschenden Autoritäten auflehnen, sondern sich auch auf Gottes Seite positionieren. In ihren Kritikern und Gegnern sehen sie Anhänger des Teufels. Die Mitglieder und Sympathisanten der Salafiyya steigen somit auf zu Gotteskämpfern.
Hannah Arendt beschreibt totalitäre Bewegungen als Träger von Weltanschauungen, die die politische Ortlosigkeit der Massen durch die Artikulation übermenschlicher Gesetze von Geschichte und Natur aufzuheben suchen.[11] Die Salafiyya erfüllt diese Beschreibung hinreichend.
Fußnoten:
1.Hanbal b. Ishaq (1977): Dhikr mihnat al-imam Ahtnad b.Hanbal, Cairo, 1977, S. 54.
- 2.Thomas Bauer (2011): Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin
- 3.Al-Harmassi, Abd-Al-Mağid stellt fest, dass die Zersplitterung islamistischer Organisationen ein verheerendes Ausmaß erreicht hat und beschreibt die Situation im arabischen Maghreb, wo er alleine in Marokko dreiundzwanzig offizielle und mehr als hundertundfünfzig inoffizielle Abspaltungen zählt, die sich nur in kleinen Nuancen voneinander unterscheiden. Vgl. hierzu al-Harmassi, Abd-Al-Mağid (2001): Al-Harakat al-islamiyya fi al- Maghreb al-arabi (die islamischen Bewegungen im arabischen Maghreb), in: Hamad, Mağdi (2001): Al-harakat al-islamiya wa-al-dimuqratiya, dirasat fi al-fikr wa-l-mumarasa (die islamischen Bewegungen und die Demokratie, Studien über Ideen und Praxis), 2. Auflage, Beirut, S. 297
- 4.Arendt, Hannah (1968): Totalitarianism. Part Three of The Origins of Totalitarianism. San Diego, New York, London.
- 5.vgl. Mooren, Thomas (1991): Macht und Einsamkeit Gottes. Dialog mit dem islamischen Radikal-Monotheismus. Altenberge
- 6.Hourani, Albert (1962): Arabic Thought in the Liberal Age, 1798-1939, London, S. 1-24.
- 7.Vgl. Btaji, Mohamad (Hrsg) (o.D.): Die Schriften von Mohamad Bin abd-al wahab, Riad.
- 8.Abou Taam, Marwan, Bigalke, Ruth (Hrsg.) (2006): Die Reden des Usama Bin Ladens, München S.76f.
- 9.Vgl. Arendt, Hannah (1986): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München, S. 505.
- 10.Vgl. Weber, Max (1917/19): Wissenschaft als Beruf. Politik als Beruf, herausgegeben von: Mommsen, Wolfgang J. /Schluchter, Wolfgang, Tubingen 1992, S. 100f.
- 11. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, a.a.O., S. 607 ff.
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