Gedanken zu Hintergründen und möglicher Ursache der Katastrophe in Beirut. Historie des Landstrichs, von den Israeliten zu den Palästinensern und der Hisbollah.
Von Albrecht Künstle
Ende 2013 befand sich das Küstenmotorschiff Rhosus mit einer Fracht Ammoniumnitrat auf dem Weg von Batumi in Georgien nach Beira in Moçambique. Dort sollte die Chemikalie nicht zu Kunstdünger verarbeitet werden, sondern in einer Sprengstofffabrik landen. Insofern hat sie nun ihren Zweck erfüllt, und zwar in Beirut, wo der Frachter damals Station machte. Die Behörden setzten das Schiff fest, unter dem Vorwand, dass es ein winziges Leck hatte – was bei vielen Schiffen der Fall ist. Auch dafür sind immer Pumpen an Bord.
Weil das Schiff vom Reeder aufgegeben wurde, ordneten die libanesischen Behörden 2014/15 an, die gefährliche Fracht der Reederei – juristisch gesehen „verlassenes Eigentum“ – in ein Lagerhaus zu bringen Die Zollbehörde bat die libanesische Justiz mehrfach, das Ammoniumnitrat wegzuschaffen und machte dazu drei Vorschläge, zuletzt die Übergabe ans libanesische Militär.
Deshalb sei die Frage erlaubt, wer hatte Interesse daran, dies zu verhindern? Dazu ist es gut zu wissen, dass es außer den offiziellen Streitkräften noch eine „Armee“ gibt. Nicht etwa die Heilsarmee, sondern die Hisbollah. Dem militärischen Arm des schiitischen Islam ist es seit jeher ein Dorn im Auge, dass im Libanon die Armee des Verteidigungsministeriums seit 1999 in christlicher Hand ist. Sowohl der Verteidigungsminister als auch der Oberbefehlshaber müssen gemäß des „Konfessionalismus“ des Hybridstaates Christen einer der sechs Glaubensgemeinschaften sein.
Die islamischen Fraktionen im Parlament, Sunniten und Schiiten, besetzen je 27 Sitze des Parlaments, die Alawiten – nicht zu verwechseln mit den Aleviten – haben zwei Sitze. Und deren islamische Auffassung deckt sich mit der von Mao, dass nämlich politische Macht nicht alleine aus Wahlen herrühre, sondern auch aus Gewehrläufen.
Und gerade die „Ungläubigen“ sollen nun im Libanon Herr der Gewehrläufe bleiben? Was das Fass zum Überlaufen brachte: Im Januar 2020 wurde sogar eine Frau zur Verteidigungsministerin gewählt – Zeina Akar Adra – zugleich stellvertretende Ministerpräsidentin („Das geht natürlich gar nicht“, würde Merkel sagen, „die Wahl muss wiederholt werden!“). „Wie können wir dieser Christenfrau ein Kuckucksei ins Nest legen?“, mögen sich die Islamisten gefragt haben. Jedenfalls dürfe dieser potenzielle Sprengstoff nicht in ihre Hand kommen.
Wobei die Herrschaften des Orients vor dieser Frau keine Angst hätten haben müssen, denn Zeina Akar wusste um die Widerstände aus dem islamischen Lager, als sie bei der Amtseinführung ihre Macht herunterzuspielen versuchte, wonach ihr Posten als Verteidigungsministerin in Bezug auf die libanesische Armee eher eine logistische Verwaltungsaufgabe sei, als dass sie eine militärische Rolle spiele. Sie scheint bei Ursula von der Leyen und Annegret Kramp-Karrenbauer abgekupfert zu haben, wie die Entmachtung des Militärs funktioniert. Aber jetzt ist nicht nur diese libanesische Ministerin weg vom Fenster, gleich die ganze Regierung trat zurück.
Aus Anlass dieser Katastrophe eine kurze Historie dieses hochinteressanten Stückchens Erde.
Um 1200 v.Chr. besiedelten die Israeliten das Land Kanaan, der Süden des heutige Libanon vom jüdischen Stamm der Asser. Der Norden gehörte den Sidoniern, einem Stamm der Phönizier. Wenig später drang das Seefahrervolk der Philister in das Küstenland vor. Sie stammten aus Kreta und fielen in Griechenland und den Küsten des östlichen Mittelmeeres ein. Gut bewaffnet, denn sie hatten von den Hethitern die Kunst des Eisenschmelzen und -schmiedens erlernt. Ihre Waffen waren effektiv und erfolgreich. Deshalb brachten sie nicht nur dem Nomadenvolk der Israeliten immer wieder große Verluste bei. Die heutigen Waffen, die Kassam-Raketen der Palästinenser, den selbsterklärten Nachfolgern der Philister, sind im Gegensatz zu damals heute nicht mehr in Lage, das jüdische Volk zu vertreiben. Aber damals verloren die jüdischen Stämme von ca. 1000 bis 922 v.Chr. Küstenstreifen am Mittelmeer an die Philister, darunter Gaza.
Zeitsprung: Nach dem Tod von Jesus Christus verbreitete sich dort das Christentum, das sich aus Juden und zum größten Teil aus Heiden herausbildete. Die Levante auch um das „Heilige Land“ herum entwickelten sich, bis es im 7. Jahrhundert von den islamischen Horden erobert wurde. Die islamischen Herrscher waren keineswegs so tolerant; wie man es uns immer noch weismachen will. Als die Nachrichten der Verfolgung und Zerstörung von Kirchen auch in Jerusalem bis nach Europa drangen, wurden im Jahr 1095 Kreuzritter auf den Weg geschickt, um den militanten Islam zurückzudrängen – was in der Natur der Sache liegend ebenfalls „militant“ war. Doch die Islamisierung konnte nur bis Ende des 13. Jahrhunderts aufgehalten werden, dann ging es in bekannter Art und Weise weiter. Die Wiege der Christenheit wurde zunehmend zu deren Grab. Die Reste der Kreuzritterfestungen sind noch im israelischen Akko und im Libanon zu finden.
Weiterer Zeitsprung: Mitte des 19. Jahrhunderts wanderten vor allem christliche Libanesen wegen der osmanischen Repressionen aus nach Amerika, Frankreich und in frankophone Länder Nordafrikas. Aber auch Syrer wanderten aus, nachdem es in Damaskus zu Massakern an Christen kam. Seit dem Bürgerkrieg 1975 machen sich wiederum Menschen aus dem Libanon nach Frankreich und Deutschland auf den Weg, sogar ganze Clans, aber kaum noch Christen. Der Libanon in seinen jetzigen Grenzen entstand 1920 unter französischem Völkerbundmandat. 1943 erfolgte dann die formelle Unabhängigkeit.
Zur Neuzeit: Seit der Ausrufung des Staates Israel fünf Jahre später, 1948, befinden sich die beiden Länder im Kriegszustand. 1958 dann die Libanonkrise, ein Konflikt zwischen prowestlichen Christen und nationalistischen Muslimen. Noch brenzliger wurde es im November 1970 mit der Ankunft bestimmter „Flüchtlinge“, denn die PLO-Führung und ihre Milizen waren aus Jordanien vertrieben worden. Wohlgemerkt, nicht etwa aus Israel, sondern aus Jordanien. Die Präsenz der Palästinenser im Libanon mündete 1975 bis 1990 in einen Bürgerkrieg zwischen linken pro-palästinensischen und rechten anti-palästinensischen Parteimilizen.
Dabei wurden wie einst wieder Kirchen angegriffen. Die christlichen Libanesen wurden kaum aus Europa unterstützt, sondern von Israel. Auch heuten finden viele dieser Libanesen und Syrer in Israel Unterschlupf. Nach Anschlägen der PLO 1978 in Israel mit 37 Toten und 76 Verletzten marschierte die israelische Armee im Libanon ein und besetzte 1982 den Süden im Wege der Vorwärtsverteidigung. Die Lage entspannte sich etwas, als die PLO 1983 zum Rückzug aus dem Libanon gezwungen wurde. Kein arabischer Staat wollte die Palästinenser, weshalb die PLO schließlich in Tunis landete. 1991 flogen sie auch aus Kuwait raus. So richtig gemocht werden sie offensichtlich nur von Deutschen, vor allem von Linken, von denen sie nicht nur ideologische Unterstützung erhalten.
Aber die Hisbollah steht kaum hinter der Radikalität der Palästinenser zurück. 1983 trat sie in deren Fußstapfen und verübte zwei Anschläge auf multinationale Hauptquartiere, bei denen 241 Amerikaner und 58 Franzosen getötet wurden, worauf Israel eine Schutzzone entlang der Grenze einrichtete. Erst 1989 war der Bürgerkrieg beendet, der 90.000 Tote forderte, 800.000 flohen. Aber der Friede hielt nicht lange, 1994/95 griff Israel Stellungen der Hisbollah im Südlibanon an, von wo aus Nord-Israel beschossen worden war. Noch heute gibt es im Grenzgebiet bewaffnete Scharmützel zwischen beiden Parteien.
Aber steter Tropfen höhlt die Köpfe – nicht nur im Libanon. Die Hisbollah wurde 2005 an der Regierung beteiligt und stellte den Energieminister – dann klemmte es auch in diesem Bereich. Doch die „Energie“ der verfeindeten Gruppen blieb erhalten. 2007 wurden bei mehrwöchigen Kämpfen zwischen der libanesischen Armee und der islamischen Untergrundorganisation Fatah al-Islam, die sich in dem Lager Nahr al-Bared verschanzt hatte, über zweihundert Menschen getötet. Und 2008, als die Regierung die Kommunikation der Hisbollah ausschalten wollte, besetzten die Hisbollah und Amal-Kämpfer Westbeirut.
Ein Konfliktpunkt dürfte die Veränderung der Zusammensetzung der Bevölkerung sein, die keinen Niederschlag im Parlament gefunden hat. Der Anteil der Christen nahm in den letzten 60 Jahren von 54 Prozent der Bevölkerung auf 39 Prozent ab. Im Parlament stellen sie aber 63 von 128 Sitzen, also rund die Hälfte. Der Anteil der Muslime nahm auf 60 Prozent zu und sie stellten 56 der Sitze, also weniger als die Hälfte. Es ist unschwer zu prophezeien, dass insbesondere die strenggläubigen Muslime keine Ruhe geben werden, bis sie auch aus dem Libanon einen Islamischen Staat gemacht haben – mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln. In der Presse wird der Bruder von Hariri, Bahaa zitiert, „die Hisbollah kontrolliert den Hafen von Beirut“.
Außenminister Steinmeier gratulierte dem Iran, der Schutzmacht der Hisbollah, zum Jahrestag der Islamischen Revolution. Ob sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin dem „IS Libanon“ dann auch gratulieren wird? Aber vielleicht wird der deutsche Außenminister dann selbst Muslim sein, denn viele Deutsche können sich sogar einen muslimischen Kanzler vorstellen.
Aber nichts wird in einem Islamischen Staat besser werden, im Gegenteil. Die Krisen des Libanon nehmen jedenfalls kein Ende. Korruption und Misswirtschaft und damit die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage sind eigentlich typisch für arabische Länder. Dass dies trotz der bisher einzigen demokratischen Verfassung eines arabischen Landes so ist, ist tragisch. Das einzig wirklich demokratische Land Vorderasiens mit prosperierender Wirtschaft bleibt Israel. Ein Grund mehr, von den umgebenden islamischen Staaten angefeindet zu werden. Man darf Israel „ein langes Leben“ wünschen. Der nördliche Nachbar Libanon wird nicht einfacher werden, auch nicht für die Völkergemeinschaft.
Vordringlich ist jetzt humanitäre Hilfe. Ich präferiere Caritas International, weniger das Internationale Rote Kreuz. Bei Spenden an das IRK befürchte ich, dass die Gelder teilweise beim Roten Halbmond versickern oder bei Organisationen wie den „Weißhelmen“, die sich in Syrien als Islamisten geoutet haben.