Klage gegen Erdogan vor dem Europäischen Gerichtshof

Metin Güler ist Alevit, überzeugter Demokrat und war in der Türkei von 2016 bis 2018 Vorsitzender der Partei „Evrensel Yol Partisi“ (Universeller Weg Partei), die in Opposition zur AKP von Recep Tayyip Erdogan stand. Güler möchte dazu beitragen, dass die Türkei wieder im demokratischen Sinne des Staatsgründers Atatürk gestaltet wird, der den Laizismus einführte und den Islam aus dem gesellschaftlich-politischen Leben zurückdrängte. Güler sieht wie Atatürk die Religion als reine Privatsache, die keine Gesetze zu bestimmen und sich aus dem Staat herauszuhalten hat.

Von Michael Stürzenberger

Bis 2011 lebte Metin Güler als Doppelstaatsbürger in Frankreich. Dann kehrte er in die Türkei zurück und begann 2015, seine Partei zu gründen. Ab 2016 führte er seinen Kampf gegen Erdogan, der in seinen Augen ein Islamfaschist ist, und dessen immer totalitärer werdende Regierung.

So klagte er vor Gericht gegen die Wahl Erdogans zum türkischen Staatspräsidenten im Jahre 2014. Güler will beweisen, dass Erdogan die Voraussetzung zu diesem höchsten Amt der Türkei fehlt. Laut Artikel 101 der türkischen Verfassung muss der Präsident eine abgeschlossene Hochschulausbildung besitzen. Güler ist wie viele andere in der Türkei davon überzeugt, dass Erdogan diese nicht vorweisen kann.

Aber der Gang durch die Justiz ist in der Türkei ein mühevolles Unterfangen, denn Erdogan hat die türkische Gesellschaft weitestgehend gleichgeschaltet und auch die Justiz immer stärker in seinem Griff. Güler kämpfte sich durch sechs Instanzen, ohne am Ende ein Urteil zu bekommen. Die Richter sahen sich nicht zuständig, diese Frage zu klären und verwiesen ihn auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Dorthin lieferte der Demokratie-Aktivist nun sämtliche Unterlagen, das Verfahren hat begonnen.

2018 musste Güler die Türkei verlassen, weil sein Leben dort in Gefahr war. Sein Vermögen und sein Haus waren bereits beschlagnahmt. Als Erdogan-Gegner kann man in der Türkei schnell im Gefängnis landen, das haben bereits zig zehntausende Bürger leidvoll erfahren. Güler lebt nun wieder in Frankreich.

Derzeit befindet er sich zusammen mit seinem Mitstreiter Mahir Özmeral, der 1982 und 1984 türkischer Meister im Schwergewichts-Boxen war, auf Besuch im Raum München, um zusammen mit weiteren Unterstützern das Gerichtsverfahren in Straßburg vorzubereiten. Dort hatte ich auch die Gelegenheit, ein Interview mit dem mutigen Demokratie-Aktivisten über dieses wichtige Verfahren zu führen (Video oben).

In diesem hochinteressanten Gespräch berichtet Metin Güler auch, dass er vom türkischen Innenministers Süleyman Soylu in einem Telefonanruf bedroht worden sein soll. Mahir Özmeral war Zeuge dieses Anrufs, der am 5. Juni dieses Jahres um 13 Uhr per WhatsApp erfolgt sein soll.

Ein solches Verhalten wäre nicht verwunderlich, denn Soylu hatte bereits am 28. Juni 2018 die HDP-Co-Vorsitzende Pervin Buldan mit den Worten „Wir lassen euch hier nicht mehr leben“ bedroht. Als sie dies öffentlich machte, bekräftigte Soylu diese Drohung bei einer Pressekonferenz und fügte hinzu, dass er ihr „noch viel mehr“ gesagt habe. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete am 4. Juli ausführlich über diesen Skandal und die diktatorischen Zustände, in denen sich die Türkei seit Jahren befindet. Auch auf der Wikipedia-Seite von Soylu ist diese massive Bedrohung einer Oppositionspolitikerin festgehalten. Daher ist es nachvollziehbar, dass auch Metin Güler von Soylu bedroht wurde.

Erdogan ist seit seiner Jugend ein zutiefst überzeugter Fundamental-Moslem. Nach der Grundschule besuchte er eine Imam-Hatip-Schule, ein religiös orientiertes Fachgymnasium. Aufgrund seiner großen Religiosität erhielt er den Spitznamen „Koran-Nachtigall“.

Als Oberbürgermeister Istanbuls stellte er bei einer Pressekonferenz fest, dass es nicht möglich sei, laizistisch und gleichzeitig Moslem zu sein. In einem Interview mit der Zeitung Milliyet bezeichnete er sich als Anhänger der Scharia und nannte als Ziel den Islamischen Staat.

Im Januar 1998 wurde die „Wohlfahrtspartei“, in der er stellvertretender Vorsitzender war, vom türkischen Verfassungsgericht verboten, da ihr Sympathien zum Dschihad und zur Einführung der Scharia vorgeworfen wurden. Im April 1998 wurde Erdogan zu zehn Monaten Gefängnis wegen „Aufstachelung der Bevölkerung zu Hass und Feindschaft unter Hinweis auf Unterschiede der Religion und Rasse“ verurteilt. Bei einer Rede in der ostanatolischen Stadt Siirt hatte er gesagt:

„Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Moscheekuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“

Diese Aussage lässt tief in die Geisteswelt Erdogans blicken. Seit er 2003 Ministerpräsident wurde, arbeitet er auch konsequent an der Umwandlung der Türkei in eine islamisch orientierte Präsidialdiktatur. Als Vorbild für einen straff organisierten Staat nannte er Ende 2015 allen Ernstes Nazi-Deutschland, worüber der Spiegel berichtete.

Die Wahl Erdogans zum türkischen Präsidenten 2014 ist hochumstritten, da ihm offensichtlich eine wesentliche Voraussetzung für dieses Amt fehlt: Das abgeschlossene Hochschulstudium. Das religiöse Gymnasium, das er absolvierte, berechtigt in der Türkei nicht zu einem Universitätsstudium. Außerdem soll Erdogan in seiner Militärzeit nur einfacher Soldat gewesen sein. Mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium hingegen wird man in der Türkei gleich als Offizier eingestuft. Erdogan behauptet aber, Kantinenoffizier gewesen zu sein, was laut Fotodokumenten offensichtlich nicht stimmt:

Erdogan behauptet weiter, dass er im Jahre 1981 an der Universität „Istanbul Marmaris“ ein Hochschuldiplom erhalten habe. Dies wird aber von vielen Beobachtern als Fälschung eingestuft, da diese Universität erst seit 1982 unter diesem Namen firmiere.

Die Kontroverse um die Echtheit von Erdogans Hochschuldiplom ist auch in seinem Wikipedia-Eintrag unter dem Punkt „Zweifel am akademischen Grad“ festgehalten:

Nach seiner offiziellen Biographie und vorgelegtem Dokument besitzt Erdogan einen Abschluss in Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften von der Marmara-Universität aus dem Jahr 1981. Verschiedene Fakten legen Zweifel an dessen Authentizität nahe:

– Das Institut für Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften wurde unter diesem Namen erst 1982 gegründet.

– Der Dekan und der Rektor, die vorgeblich das Diplom unterschrieben haben, waren erst ab 1982 im Amt.

– Die auf der Urkunde verwendete Schriftart soll 1981 noch nicht auf dem Markt gewesen sein.

– Die Nahverkehrsgesellschaft der Stadt Istanbul gibt auf ihrer Internetseite an, dass Erdogan bis 1981 als Vollzeitbeschäftigter bei ihr angestellt war.

– Die mangelnde Authentizität des Hochschulabschlusses ist ein Problem, weil Erdogan laut Verfassung sein Diplom vor der Wahl zum Staatspräsidenten zur Prüfung hätte vorlegen müssen. Der Verband der türkischen Hochschul-Professoren bezweifelt, dass Erdogans Zeugnis diesem Anspruch genügt.

Der Vorwurf der Urkundenfälschung wurde von den Oppositionsparteien Milliyetçi Hareket Partisi (MHP) und Halklarin Demokratik Partisi (HDP) schon zu Beginn der Präsidentschaft erhoben.

In deutschen Zeitungen wurde die Auseinandersetzung um das angebliche Hochschuldiplom Erdogans im Jahr 2016 intensiv thematisiert. So stellte der Spiegel die Frage „Hat Erdogan sein Diplom gefälscht?“, auch die Südwest Presse titelte über diesen „Schweren Verdacht“ und die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb „Erdogans Uni-Problem: 44 Ehrendoktortitel und kein Diplom?“. Auch der österreichische Kurier hält eine Fälschung für möglich.

Unterdessen wird die Kritik an Erdogan auch in Deutschland immer lauter. Wolfram Weimer bezeichnet Erdogan in einem bemerkenswerten ntv-Artikel vom Dienstag als „religiösen Kulturkämpfer“ und „Schutzpatron der islamistischen Expansion“.

PI-NEWS bleibt am Fortgang des Verfahrens am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte dran. Sobald es dort ein Urteil gibt, findet die juristische Aufarbeitung ihre Fortsetzung am Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Auch wenn die Mühlen der Justiz häufig langsam mahlen – in diesem Fall ist es wert, diesen anstrengenden Weg zu gehen. Metin Güler und seine Unterstützer in der türkischen Oppositionsbewegung sind wahre Helden der Demokratie.

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